Wer tagtäglich mit Kindern zu tun hat, kennt deren überbordende Fantasie, die manch einer auch gerne mal als Lüge bezeichnet.

Wenn sie mit schelmischen Blick und schokoverschmiertem Mund die erstaunlichsten Geschichten erfinden, um sich aus einer unliebsamen Situation zu befreien: Länger aufbleiben dürfen. Noch ein Schälchen Nachtisch ergattern. Nicht am Tablet gewesen zu sein. Wer könnte ihnen dann böse sein, wenn sie auf diese pfiffige Weise die Wahrheit verdrehen, um an ihr Ziel zu gelangen!

Gleichzeitig wissen Kinder schon ab dem vierten Lebensjahr, dass Lügen etwas Schlechtes und bisweilen Unmoralisches ist. Mit zunehmendem Alter lernen sie dann, zwischen Witz, Ironie und Lüge zu unterscheiden. Und verstehen sehr wohl, dass es weder Zahnfee noch Osterhase oder Weihnachtsmann in „echt“ gibt. Der Glaube an die Alltagsmythen ist dennoch ungebrochen – alle Jahre wieder.

Beim „Lügenerwerb“ spielen auch Medien eine immer wichtigere Rolle. Hier werden Geschichten erzählt und Wahrheiten verdreht, hier wird lustvoll der Unterschied zwischen Realität und Fiktion geübt. Dabei identifizieren sich Kinder gerne mit dem Lügenbold oder dem fantastischen Held, fühlen sich in seine missliche Lage hinein oder gar im eigenen Handeln bestärkt, man denke nur an Pinocchio oder Pippi Langstrumpf oder das Sams. Dieser ständige Abgleich zwischen einem fiktionalen Charakter und der eigenen Lebenswelt fördert den Empathie-Erwerb, wirkt Identitätsbildend und hilft, sich in einer zunehmend digitalisierten Welt zurechtzufinden. Eine wichtige Medienkompetenz, um die Vielfalt der Informationen, die uns tagtäglich im Netz und durch die Sozialen Medien erreichen, selbstbestimmt einordnen zu können. Denn woher weiß man heute, was wahr ist und was falsch? Auch wir Erwachsenen tun uns schwer, Informationen zu filtern und zwischen Fakten und Unwahrheiten zu unterscheiden, lassen uns von Aufmachern verleiten und fallen auf Verschwörungstheorien rein.

In dem Kinder Buch, Fernbedienung, Tablet oder Controler in die Hand nehmen, betreten sie sozusagen eine fiktionale Welt und verlassen den geschützten Raum. Sie erleben fantastische Reisen und entdecken womöglich Dinge, die nicht für sie gedacht sind. Deswegen ist es wichtig, sie dabei zu begleiten und ihnen zu zeigen, dass die Lebenswirklichkeit und insbesondere die des Kindes in der realen Welt fest verankert ist und bleibt.

Wir müssen uns gegenseitig immer wieder rückversichern, auf was es wirklich ankommt, was echt und greifbar ist. Und dass der Weg durch das Medium in eine andere Welt – egal, ob Buch, Film, Tablet – nicht in einer Sackgasse mündet, sondern im Gegenteil stets zurück führt in die Geborgenheit der Familie und des sozialen Umfelds. Wie bei einer Abenteuerreise, die den Protagonisten gereift und bereichert zurückkommen lässt. Kinder brauchen erfundene Phantasiewelten um ihre Identität zu entwickeln, genauso wie Erwachsene.

Buchtipp: Bruno Bettelheim, Kinder brauchen Märchen

Filmtipp: Der Polarexpress (animiertes Weihnachtsmärchen mit Tom Hanks)

Ilona Einwohlt

Institut für Medienpädagogik und
Kommunikation Hessen e.V.