Zeit, die wir im Überfluss haben, wenn sie langsam dahin streicht: während zäher Tage in Arztpraxen und Krankenhäusern, festgeklebt in Autositzen in der unendliche Schwüle Jakartas, festgehalten in den unvermeidlichen Staus der zweitgrößten Megametropole der Welt.

Doch gehen wir rückwärts, wie das Landstreichermädchen Momo mit ihrer Schildkröte Kassiopaia, genießen wir die Tage schnorchelnd am thailändischen Golf auf Kambodschas Inselwelt, verrinnt sie umso schneller und wir müssen Rückflüge buchen, Auftritte arrangieren und die Vermietung unseres Hauses regeln. Zudem muss unsere Zweitklässlerin sich ersten Klassenarbeiten stellen und die Uhr lesen lernen. Momo ist unser momentanes Lieblingsbuch.
Gelandet sind wir in Jakarta vor einigen Wochen, um Julians multiple Kieferfraktur operieren, Zähne ziehen und Zahnwurzeln behandeln zu lassen, nötig geworden durch seinen schweren Rollerunfall auf Java. Bis zu diesem Zeitpunkt verlief unsere Reise mit der transsibirischen Eisenbahn durch Russland, die Mongolei und China traumhaft, ebenso wie in den anschließenden drei Monaten in Down Under. Hier haben wir Weihnachten am Strand gefeiert, sind durchs Outback tausende von Kilometern gefahren und haben uns in die einzigartige Tierwelt verliebt. Indonesien stellt den Auftakt für einen neuen Abschnitt unserer Reise dar: Südostasien. Doch zunächst harren wir ausgebremst auf Julians Behandlungsfortschritt und bekommen eine kostenfreie Visumverlängerung, da Julian nicht flugfähig ist. Unsere Weiterreise nach Myanmar fällt aus, dafür kommen Oma und Opa aus Deutschland zu uns geflogen, für fast vier Wochen. Ihre Unterstützung brauchen wir dringend: sie zaubern frohe, glucksende Kinderlachen in Amalias Gesicht, verschaffen Julian und mir Luft, das Erlebte zu verarbeiten, bringen einen Koffer mit voll neuer Bücher, Energie und Freude am Leben. Wir verbringen eine intensive Familienzeit vorwiegend in den unendlichen Malls, die der beliebteste Freizeittreffpunkt der Jakarter sind. Wir besuchen China Town, ehemalige, belgische Kolonialstadtteile, fahren in nach Geschlechtern getrennten Bussen, feiern unsere eigene Faschingsfeier, besuchen im 24. Stockwerk ein Philharmoniekonzert im und entdecken die größte Moschee Südasiens Istiqlal. Alles ohne Julian-Papa. Er fehlt in unserer Familie, als Papa, Ansprechpartner, Reisender, Wissender und bester Ehemann der Welt.

Viel zu schnell sind wir wieder nur wir drei, doch endlich, endlich ist Besserung in Sicht: Nach bald zehn Wochen Indonesien darf Julian reisen! Alle weiteren Behandlungen können bis zu unserer Rückkehr warten, der Pürierstab wird bis dahin unser treuer Begleiter sein. Kauen bleibt verboten. Und nun vergeht die Zeit schnell: Wir fliegen über Singapur nach Kambodscha.

In Singapur übernachten wir auf dem Boden des Flughafens Changi, werden von Pässe kontrollierendem Militär und einer über das Gesicht krabbelnden Kakerlake geweckt, genießen den Panoramablick auf das Rollfeld, wenn die Welt noch schläft. Kaum in Phnom Penh gelandet, zieht es uns an die Küste nach Kep. Hier steht die Zeit still, Kolonialbauten verfallen, der Krabbenmarkt ist klein und traditionell, unsere Fahrräder quietschen uns durch die Mittagshitze, Amalia mit den Beinen schlackernd auf meinem Gepäckträger, einen Zuckerrohrsaft in der Hand und einem Grinsen auf dem Gesicht: Papa ist wieder mit von der Partie! Kep ist bei Kambodschanern beliebt: am Strand wird gepicknickt, in voller Montur gebadet, Musik gehört und getanzt.

In Kambodscha leben 80 Prozent der Bevölkerung vom Reisanbau als Bauern auf dem Land. An der Küste gibt es aber auch Fischer, Pfefferfarmen und Salzfelder. Kambodscha ist zu Recht stolz auf den eigenen Kaffee: süßlich, mild geröstet und stark fängt mit ihm der Morgen gut an. Weiter gen Westen reisen wir nach Kampot, verschlafen, mit breiten Straßen, vielen Straßenhunden und einem Fluss, der zum Baden und Kajak Fahren einlädt. Unsere Bambushütte hat eine eigene Leiter hinunter ins kühle Nass. Nach anstrengenden Klettertouren im nahegelegen Elefantengebirge, inklusive Caving, Abseiling und Via Ferratas, ein absolutes Muss!

Doch was nun kommt, entschleunigt und begeistert uns noch mehr und trifft unsere Sehnsucht nach dem Paradies mitten ins Herz: Wir bitten einen lokalen Fischer uns auf die Insel Koh Ta Kiev zu bringen und beziehen unsere Holzhütte mit Bett auf der Terrasse, ohne Strom und fließendes Wasser. Die Insel besteht aus einem Fischerdorf, Dschungel, Korallenriffen, klarem Wasser, fluoreszierendem Plankton und Schönheit. Hier angelt Amalia ihren ersten Tintenfisch, malt mit seiner Tinte blaue Kreise auf die Steine, schnorchelt, lernt auf der Slackline balancieren, baut Burgen aus Sand, röstet Brot am Lagerfeuer und sammelt Müll ein. Denn auch im Paradies gibt es Plastiktreibgut.

Zurück am Festland, in Otres, erwarten uns gleich zwei Highlights: wir gehen mit Pferden im Meer schwimmen, erfahren am eigenen Leib, dass die Freiheit der Erde auf dem Rücken der Pferde liegt und fahren die einzige Eisenbahnstrecke Kambodschas mit einem Ein-Waggon-Zug zurück nach Phnom Penh, inklusive Actionfilmen, ohrenbetäubender Musik, frostiger Klimaanlage (Kälte ist ein Zeichen von Wohlstand), wunderschöner Landschaft und leckeren Snacks: An der Bahnlinie entlang finden sich gebratene Fische, Frösche, Spinnen und Grashüpfer, Entenembryonen im Ei, aber auch jede Menge Früchte, scharfer, grüner Papayasalat und gekochte Hühnereier. Weitere typische, super leckere Gerichte sind Amok (ein Eintopfgericht), Suppen mit Limonengras und Ingwer, Lok Lak (Fleisch in Pfeffer gebraten), alles serviert mit Reis. Typische Khmerhäuser stehen auf Stelzen, sind aus Holz, bunt und voller Leben. Gerade herrscht Trockenzeit, die Reisfelder liegen brach, es ist Hochzeitssaison und häufig erblicken wir große Partyzelte mit traditionell und wunderschön golden gekleideten Bräuten.
Phnom Penh ist eine gemäßigte Zweimillionenstadt: Nicht zu groß, nicht zu laut, nicht zu dreckig. Traditionelle Tänze, der Königspalast, die buddhistische Pagode Wat Phnom und die Uferpromenade des Mekong und des Tonle Sap sind Highlights der Stadt. Doch das absolute Kambodscha-Muss zieht auch uns in die Provinz Siem Reap: die archäologische Stätte Angkor, Hauptstadt des historischen, indochinesischen Khmer Imperiums Kambudja im 9. bis 16. Jahrhundert.

Wir klettern und kraxeln (“Mach‘ dich zum Affen, Mama!”), manchmal schieben wir uns durch lautstarke Touristenmassen und lassen uns den Wind auf dem weitläufigen Gebiet um die Nase wehen, während wir auf dem Moto-TukTuk brausen oder in der Montgolfière schwebend: Wir verbringen eine volle Woche in Angkor und sehen somit nicht nur Angkor Wat, sondern auch die abgelegenen Tempel, deren Ruinen vom Dschungel verschluckt werden und die wir für diesen einen Moment mit keinem anderen teilen müssen: allein das Erspüren jahrhundertealter Geschichte gibt uns ein Gefühl von Vergänglichkeit und Zugehörigkeit zugleich.

Die neuere Geschichte Kambodschas ist blutiger und erst seit 1993, nachdem die Zeit der französischen Kolonisation, der Roten Khmer, der Bürgerkriege und
des Vietnamkriegs vorbei sind, ist Kambodscha ein stolzes, friedliches Land mit einer demokratischen Monarchie und einer der höchsten Dichte an Landminen weltweit.

Wir reisen in den Nordosten des Landes, um Süßwasserdelphine im Mekong zu erspähen, Kajak in Mangrovenwäldern zu fahren, kambodschanisches Neujahr zu feiern und die laotische Grenze zu überqueren, um als letztes asiatisches Land Vietnam zu besuchen, bevor wir uns nach Südosteuropa begeben, denn nach Hause, nein nach Hause wollen wir noch nicht! Wir genießen die wertvolle Reisezeit und machen es wie Beppo, der Straßenkehrer in Momo: “Man muss immer nur an den nächsten Schritt denken, an den nächsten Atemzug, an den nächsten Besenstrich. Dann macht es Freude; das ist wichtig, dann macht man seine Sache gut. Und so soll es sein. “

Die Autorin

Vera Gramm wird auch in der kommenden Ausgabe über ihre Erlebnisse berichten. Weitere Weltreisegeschichten gibt es unter
www.veragramm.com