Der gemeinsame Sonntagsausflug oder die Vorlesegeschichte am Abend – jede Familie pflegt Gewohnheiten, die einen festen Platz im Alltag haben. Oft werden sie von Generation zu Generation weitergegeben. Manchmal entstehen sie aber auch „spontan“. Wichtig sind solche Rituale für alle. Denn sie geben dem Tagesablauf Struktur und bieten Orientierung.

Yoschka hatte sich monatelang auf die Schule gefreut. Morgens stand er mit seiner Schwester, der von ihm schwer beneideten Achtklässlerin, auf und packte auch seinen „Ranzen“. Am liebsten ging er zur selben Zeit mit ihr aus dem Haus und in den Kindergarten, dessen Ende er nicht abwarten konnte. Doch dann kam die Einschulung und damit begannen die Schwierigkeiten. „Yoschka war total motiviert, aber morgens schaffte er es einfach nicht aus dem Bett“, erzählt seine Mutter. Sie weckte ihn jeden Tag, versuchte, ihn mit allen Mitteln zum Aufstehen zu bewegen. Doch Musik zum Wachwerden oder Frühstück im Bett brachten kaum etwas. Von Tag zu Tag wurde es mühsamer für Yoschka, rechtzeitig schulfertig zu werden.

Aufstehen nach „Stundenplan“

Das änderte sich erst, als seine Mutter einen Zeitplan für das Aufstehen an den Kühlschrank heftete. „Ich habe ihm ganz kleinschrittig aufgeschrieben, was morgens zu tun ist: Aufwachen, Anziehen, Zähneputzen … und alles mit einer genauen Uhrzeit.“ Ein Digitalwecker diente als Zeitmesser, von dem Yoschka die Uhrzeit gut ablesen konnte. Von da an war das Aus-dem-Bett-Kommen kein Thema mehr. „Er stand alleine auf und lief immer wieder zum Kühlschrank, um zu schauen, wie er in der Zeit lag“, sagt seine Mutter. „Das war für ihn ein Stundenplan, nach dem er sich richten konnte. Diese Struktur brauchte er wohl.“ Der Aufsteh-Stundenplan ist ein schönes Beispiel dafür, wie wichtig klare Gewohnheiten im Leben von Kindern sind. Und ein Beweis dafür, dass Rituale und verbindliche Regeln keineswegs von gestern sind.

Feste Gewohnheiten und Rituale – Anker im Alltag

Lange Zeit hatten feste Abläufe im Familienalltag ein schlechtes Image. Zu viele Vorgaben galten als unflexibel und starr. Schließlich sollen alle Familienmitglieder auf ihre Kosten kommen, und da gehen die Bedürfnisse erfahrensgemäß oft recht weit auseinander: Der eine frühstückt beispielsweise gerne, der andere ist ein Morgemmuffel – beide gut gelaunt an einen Tisch zu bekommen, könnte zur Herkulesaufgabe werden.
Dabei ist es durchaus sinnvoll, an Ritualen wie einem gemeinsamen Frühstück festzuhalten. Regelmäßig wiederkehrende Handlungen gliedern den Tag und machen ihn so übersichtlicher. Gerade in Familien geht es im Alltag häufig hektisch zu, da können Rituale als vertraute Abläufe Verlässlichkeit vermitteln und für mehr Entspannung sorgen. Auch, weil nicht immer alles jedes Mal neu geplant oder verhandelt werden muss.

Viel mehr als Schema F

Geht man streng nach Definition, dann ist ein Ritual eine nach vorgegebenen Regeln ablaufende, meist formelle und oft feierlich oder festliche Handlung mit hohem Symbolgehalt. Sie wird häufig von bestimmten Wortformeln und festgelegten Gesten begleitet und kann religiöser oder weltlicher Art sein. Feste wie Ostern oder Weihnachten haben rituelle Abläufe, auch Taufen oder Hochzeiten haben einen Rahmen.

Auch unser Alltag steckt voller Rituale

Bei der Begrüßung etwa schüttelt man sich die Hände, gibt sich Küsschen oder nickt sich zu. Zum Geburtstag wird gratuliert und auf den Kuchen kommt eine Kerze, die vom Geburtstagskind ausgepustet wird, weil das Glück bringen soll. Vor dem Essen wünscht man sich einen „guten Appetit“, abends verabschiedet man sich mit „Schlaf schön“ ins Bett.

All diese Gewohnheiten sind uns vertraut, weil sie nach einem bekannten Schema ablaufen. Wir müssen uns in diesen Situationen nicht überlegen, wie wir handeln oder was wir tun, sondern greifen auf bestimmte Automatismen zurück. Oft spulen wir die Rituale ab, ohne groß über deren Sinn und Bedeutung nachzudenken. „Das macht man halt so“ oder „Das gehört sich so“, bekommen viele Kinder zu hören, wenn sie sich beispielsweise nicht an Höflichkeitsregeln halten. Das erleichtert den komplexen Alltag und spart Energie – weil wir uns auf Situationen einstellen können und nicht immer von Neuem überlegen müssen, was jetzt zu tun ist.

Positive Erziehungshelfer

Rituale sind nicht einfach da oder naturgegeben. Sie entwickeln sich, wandeln sich im Laufe der Zeit und passen sich im Idealfall an. Oft entstehen Gewohnheiten auch aus einer bestimmten Situation heraus und bürgern sich dann bei Familien ein.
Bisweilen geschieht das auch aus einer gewissen Notwenigkeit heraus. Damit es keine Streitereien gibt, hat in vielen Familien jeder seinen festen Sitzplatz am Esstisch, abends gibt es eine Zockstunde an der Playstation, so werden Diskussionen über die Spielzeiten ausgebremst, weil die Kinder wissen, wann ihnen das zusteht.

Werte weitergeben

Rituale können positive Erziehungshelfer sein, weil sie verbindliche Handlungsweisen vorgeben und Orientierung bieten. Kinder, deren Alltag durch Rituale strukturiert ist, machen die Erfahrung, dass sie Rechte haben, dass aber auch sie sich an Regeln halten müssen. Diese wechselseitige Verbindlichkeit ist eine stabile Basis für das Miteinander. Auch Werte wie Respekt und Verlässlichkeit lernen Kinder dadurch und schulen ihre Kompromissbereitschaft. Eltern profitieren ebenfalls davon: Sie müssen nicht jede Anweisung rechtfertigen, sondern können auch mal etwas stehenlassen, weil „es bei uns eben so gemacht wird“.

Drei Gründe, warum Rituale für Kinder gut sind

  1. Rituale vermitteln Sicherheit
    Wenn etwas immer mehr oder weniger gleich abläuft, können sich Kinder darauf verlassen. Das gibt ihnen Sicherheit und bringt Ordnung in den Tagesablauf und auch in die Beziehungen zu anderen Menschen. Beim Aufstehen, bei der Verabschiedung in den Kindergarten oder beim Zubettgehen wissen die Kinder, was sie erwartet – und auch, was von ihnen erwartet wird. Wenn diese alltäglichen Handlungen immer nach dem gleichen Muster ablaufen, wissen alle Beteiligten, was wann und wie geschieht und dass sie sich aufeinander verlassen können. Wiederkehrende Handlungen vermitteln Verlässlichkeit und Vertrauen. Und die Wiederholungen geben Kindern das Gefühl, etwas zu kennen und zu können. Das stärkt das Selbstbewusstsein und fördert auch die Eigenständigkeit.
  2. Rituale geben Geborgenheit
    Die Welt ist so groß, die Erwartungen so immens – immer wieder machen Kinder Entwicklungsschritte oder stehen vor großen Veränderungen. Rituale können in diesen Übergangsphasen begleiten und sie erleichtern. Vertraute Gewohnheiten stärken das Gefühl, geborgen zu sein und auch in neuen Situationen einen starken Rückhalt zu haben. So können Rituale Ängste reduzieren und in neuen Situationen Halt geben und Trost spenden.
  3. Rituale stärken das Wirgefühl
    So ist das bei uns – Kinder müssen in ihrer Entwicklung lernen, sich als Individuen zu erkennen und zu positionieren. Dafür ist es wichtig, dass sie sich zugehörig fühlen. Rituale sind dabei ein wesentlicher Baustein. In der Familie tragen sie dazu bei, ein Wirgefühl zu erzeugen. Denn die ganz eigenen Gewohnheiten, die innerhalb einer Familie entstehen und deren wirkliche Bedeutung vielleicht nur die Familienmitglieder kennen, schaffen ein ganz besonderes Zusammengehörigkeitsgefühl.

Rituale
von morgens
bis abends

Beim Aufstehen

Nach dem Wecken noch einmal kurz ins Kinderbett schlüpfen und den Rücken kraulen, sich Zeit nehmen, um den Tag „kommen zu lassen“.

Beim Frühstück

Immer die Lieblingstasse hinstellen, jeden Tag ein bestimmtes „Tagesfrühstück“ einführen (montags Brötchen, dienstags Müsli … sonntags dann ein Ei), sich Zeit nehmen, um über den bevorstehenden Tag zu sprechen.

Beim Verabschieden

Eine Umarmung und ein „Abschiedscode“ (see you later!, Abklatschen), an einer bestimmten Stelle auf dem Schulweg Tschüss sagen, sich noch mal zum Kind umdrehen und winken.

Beim Nachhausekommen

Begrüßungsumarmung und Zeit zum Ankommen, Übergangsphase ermöglichen, um den Kindergarten- oder Schulalltag „abzustreifen“.

Beim Essen

Gemeinsamer Start mit einem „Guten-Appetit-Spruch“ (Piep, piep, piep, wir haben uns alle lieb) oder einem Tischgebet, Handys und Co. verbannen, sich auf Tischmanieren einigen (mittwochs ist Schmatzen erlaubt).

Bei der Körperpflege

Ein ganz bestimmtes Lied zum Wickeln singen, immer das gleiche Spielzeug beim Baden, der Lieblingsduft beim Haarewaschen, ein Fingerspiel zum Nägelschneiden.

Beim Zubettgehen

Zeitlich genau geplanter Ablauf, Kuscheltier schon mal hinlegen, Geschichte vorlesen oder anhören, Redezeit im Bett (was war heute besonders schön?), Gute-Nacht-Spruch (Schlaf süß und träum von sauren Gurken).

Für Eltern

Gewohnheiten, die nur für Mama und Papa sind, etwa der „Tatort“ am Sonntag, ein Abendspaziergang, Musik hören oder mit der Freundin ausgiebig telefonieren.