Sie kennen das vielleicht früher von sich selbst oder heute von ihren eigenen Kindern. Als ich klein war, war dieser Satz jedenfalls meine Standardantwort auf sämtliche Ermahnungen wie „Nimm die Ellbogen vom Tisch!“, „Sitze gerade!“, „Leg Dein Besteck zusammen!“ oder „Finger aus dem Gesicht!“.

Bis wir eines Tages mit Bekannten und deren Enkel, der ein paar Jahre älter war als ich – ich war etwa neun – gemütlich beisammensaßen und ein Video von einem gemeinsamen Urlaub anschauten. Himmel, fand ich diesen Jungen gut! Er trug ein Michael-Jackson-T-Shirt und Nike Airs, außerdem hatte er einen zarten Oberlippenflaum. Ende der Achtziger waren das durchaus Attribute, mit denen man mich beeindrucken konnte. Ich bebte natürlich vor Aufregung, denn er
saß auch noch direkt neben mir auf dem Sofa, während alle gespannt auf den Bildschirm schauten. Und er reichte mir Chips. Wow!

Das Urlaubsvideo zeigte uns alle bei einer Kutschfahrt, später bei einem Ausflug und einer lustigen Feier in einem Landgasthof, wo ich zuerst begeistert mit den Händen zur Musik klatschte, bevor sich meine Linke ein Sandwich vom Buffet griff, während mein rechter Zeigefinger bis zum Mittelglied in meiner Nase verschwand. Etwa zeitgleich verschwand die Chipstüte außer Reichweite und ich spürte förmlich, wie die Augen meines Schwarms neben mir auf Tellergröße anwuchsen. Seitdem nahm ich Mahnungen meiner Mutter zu Anstand und Manieren ernst.

Manieren, bitte!

Heute bin ich froh darüber, dass man in meiner Kindheit so großen Wert auf eine gepflegte Tischkultur gelegt hat. Denn: Wir machen uns so viele Gedanken darüber, was wir essen, wie etwas schmeckt, über die Art der Zubereitung und die Herkunft der Produkte. WIE wir jedoch essen, vor allem auch in der Öffentlichkeit, das ist selten Gegenstand unserer Überlegungen. Unser Essverhalten ist quasi in uns verwurzelt, es ist uns mit den Jahren in Fleisch und Blut übergegangen. So wie wir Manieren gelernt haben und gewohnt sind, so leben wir sie – oder eben nicht.

Ich bin spießig, finden Sie?

Das habe ich mich nach folgendem Erlebnis zunächst auch gefragt. Neulich machte ich in einem kleinen Restaurant mit gehobener Küche unfreiwillig eine Beobachtung. Meiner Familie und mir gegenüber saß ein Pärchen um die 40. Beide waren schick gekleidet, sie tranken teuren Wein und wählten das Menü. Dann plauderten sie – permanent mit vollem Mund. Sie zeigten mit dem Besteck aufeinander und nahmen hier und da einen kräftigen Schluck aus dem Glas, ganz
offensichtlich, damit das Essen „besser rutscht“. Auf ihren Tellern sah es indes aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen, und alle vier Ellbogen machten es sich auf dem Tisch bequem. Das Besteck klirrte und klapperte, es wurde geschmatzt und es hagelte Zoten, zwischendurch noch schnell mit fettigen Fingern eine Nachricht ins Handy getippt, das natürlich die ganze Zeit auf dem Tisch lag. Als sie gingen, sah ihr Tisch aus, als wäre ein Orkan darüber hinweggefegt.

Ich überlegte kurz, ob sich vielleicht so der Moment anfühlt, in dem der Spießer-Vorhang fällt. Der Moment, in dem man für sich realisiert: „Du bist nicht mehr cool! Du regst dich über Dinge auf, die dich nichts angehen. Du wirst als altes, verbittertes Paradebeispiel des Spießertums enden und in trauter Zweisamkeit mit deinem Messerbänkchen auch mit Zahnprothese und Tremor noch dem Knigge huldigen. Schau doch einfach weg, wenn´s dir nicht passt!“ Aber dann tat es mir viel mehr leid um mein schönes Essen und um die Atmosphäre, die ich mir dadurch verderben ließ.

Respekt vor dem Essen, Achtung vor den Tischnachbarn

Irgendwie habe ich in den letzten Jahren das Gefühl bekommen, dass immer weniger Menschen es vermögen, „schön zu essen“, was immer das eben für einen persönlich heißen mag. Für mich sind Tischmanieren nichts anderes als Respekt vor dem Essen, das ich zu mir nehme, und Achtung der Menschen, die es für mich zubereitet haben oder mit denen ich gemeinsam am Tisch sitze. Sicher, es gibt auf dieser Welt zweifelsohne weitaus schlimmere und vor allem wichtigere Dinge als fehlende Tischmanieren. Aber, und deswegen finde ich sie eben doch nicht unwichtig, sie zeugen von Anstand. Von Achtsamkeit und Reflektieren. Und von diesen Fähigkeiten kann es gerade heutzutage nicht genug geben. Jemand, der sich bei Tisch zu benehmen weiß, kann und tut dies in der Regel auch in anderen
Bereichen.

Ich wünsche uns allen eine Tischkultur frei von Dogmatismus, aber mit einer geballten Ladung Liebe zum Essen und zu den Menschen, mit denen man es teilt. Mit
aller Würde und allem Respekt, damit es für  alle Beteiligten ein sinnliches und schönes Vergnügen ist.

Christina Pfister

Die Autorin Christina Pfister

Die gebürtige Freiburgerin lebt seit vielen Jahren in Darmstadt und liebt Pferde, Kunst, Literatur, den Wald, Kochen und Esskultur.

Seit 2009 führt sie auf ihrem Foodblog www.newkitchontheblog.de ein kulinarisches Küchentagebuch:

Die Mutter einer dreijährigen Tochter schreibt über Alltägliches und Besonderes und würzt ihre warmherzigen Beobachtungen mit köstlichen Rezept-Ideen und kunstvollen Fotos.